- Russland: Vom Zarenreich zur Oktoberrevolution
- Russland: Vom Zarenreich zur OktoberrevolutionAm späten Nachmittag des 25. Februar 1917, es war ein Samstag, telegrafierte Sergej Semjonowitsch Chabalow, der Kommandant des Petrograder Militärbezirks, an das militärische Hauptquartier in Mogiljow, in dem sich — als Oberbefehlshaber der Truppen — auch Zar Nikolaus II. aufhielt: Die Lage in der russischen Hauptstadt beginne sich dramatisch zuzuspitzen; die Arbeiter antworteten auf die Versorgungsschwierigkeiten mit Streiks; tags zuvor seien an die 200000 im Ausstand gewesen; Demonstrationszügen sei es gelungen, bis ins Stadtinnere vorzustoßen; um sie aufzulösen, habe Militär eingesetzt werden müssen.Februarrevolution und DoppelherrschaftDie militärische Führung wusste, was der Streik bedeutete. 200000 Arbeiter im Ausstand — das war fast schon ein hauptstädtischer Generalstreik, und der konnte, mitten im Krieg, nicht auf die leichte Schulter genommen werden; denn in Petrograd — wie Sankt Petersburg seit Kriegsbeginn hieß — lagen wichtige Teile der Rüstungsindustrie. Wenn sie ausfielen, würde der Nachschub für die Front noch problematischer, als er ohnehin bereits war. So gab der Zar noch am gleichen Tag den Befehl, die Unruhen niederzuschlagen, sie könnten »in der schweren Zeit des Krieges mit Deutschland und Österreich nicht hingenommen« werden. Doch bereits am Montag deutete Chabalow in einem neuerlichen Telegramm das Scheitern seiner Bemühungen an: Selbst Garderegimenter hatten sich geweigert, »auf das Volk zu schießen«, und sich den Demonstranten angeschlossen. Ihre patriotische Begeisterung war längst verflogen, das Zutrauen in die Regierung, den Krieg siegreich zu beenden, geschwunden; schließlich verlief die Front weit im eigenen Lande; sie hatte sich, im Grabenkrieg erstarrt, seit Monaten kaum noch bewegt. Diese Vorgänge zwangen auch die Vertreter des liberalen Bürgertums zum Handeln. Obwohl vom Kriegsverlauf und der Regierung nicht weniger enttäuscht als Arbeiter und Soldaten, hatten sie — gerade mit Rücksicht auf die Kriegssituation — bis zuletzt gezögert, sich dem Aufstand anzuschließen. Wenn sie nun tätig wurden, geschah das in doppelter Absicht: die Krise rasch zu beenden und den eigenen Führungsanspruch durchzusetzen. Unter dem Eindruck der Massendemonstrationen dankte Nikolaus II. am 2. März 1917 ab.Provisorische Regierung und SowjetsystemIn der neu gebildeten Provisorischen Regierung, die die Staatsgeschäfte bis zur Wahl einer Verfassung gebenden Versammlung führen sollte, gaben die Vertreter der reformorientierten Liberalen, der Konstitutionellen Demokratischen Partei — nach den Anfangsbuchstaben des Namens in russischer Sprache meist kurz »Kadetten« genannt — den Ton an. Die neue Regierung verkündete eine allgemeine politische Amnestie, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit einschließlich des Streikrechts und die Abschaffung aller ständischen, religiösen und nationalen Diskriminierungen; sie versprach darüber hinaus, sofort mit den Vorbereitungen für die Wahl einer konstituierenden Versammlung auf der Basis des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu beginnen.Diesem Programm stimmten auch die Vertreter der sozialistischen Parteien, die Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre zu — ohne allerdings der Regierung selbst beizutreten. Sie sahen ihre Aufgabe eher darin, die hauptstädtischen »Massen«, die Arbeiter und Soldaten, zu organisieren. Deren institutioneller Mittelpunkt wurde der »Sowjet« (Rat), in den die hauptstädtischen Fabriken und Truppeneinheiten Vertreter, Deputierte genannt, entsenden konnten und der sich anheischig machte, die Einhaltung des Regierungsprogramms zu kontrollieren. Damit war entstanden, was bald als »Doppelherrschaft« bezeichnet werden sollte: ein Nebeneinander von Regierung und Sowjet, bei dem die Regierung zwar manches ohne den Sowjet, aber nichts gegen seinen Willen auf den Wege bringen konnte.Das Beispiel der Hauptstadt machte Schule: Auch draußen im Lande wurden die Amtsträger der Zarenherrschaft abgelöst, Kommissare der Provisorischen Regierung oder Wahlbeamte an ihre Stelle gesetzt; vielerorts bildeten sich daneben Arbeiter- und Soldatenräte. Schon im Frühjahr 1917 ging ihre Zahl in die Hunderte. Sie schickten Delegierte zum 1. Allrussischen Kongress der Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der im Juni in Petrograd tagte und ein Allrussisches Exekutivkomitee wählte. Die Räte waren eine Sache der Städte und Garnisonen. Ihre Bildung griff auf die Bauernschaft kaum über. Doch auch im dörflichen Raum erhob sich kaum noch eine Hand für die Verteidigung der Autokratie des Zaren. Man hoffte, der Sturz der zaristischen Selbstherrschaft werde den Weg für eine Agrarreform freimachen, die den Bauern das Land des Adels, der Kirche und der Klöster übertragen würde.Die Provisorische Regierung scheitertIn der Ablehnung des Bestehenden stimmten Arbeiter, Soldaten, Bauern und Teile des Bürgertums überein. Als es aber um die Festlegung der nächsten politischen Schritte ging, begann diese Einheit rasch zu wanken. Nach Verkündung der Grund- und Freiheitsrechte forderte die Führung des liberalen Bürgertums, zunächst erneut alle Anstrengungen auf die erfolgreiche Fortsetzung und Beendigung des Krieges zu konzentrieren; so versicherte der neue Außenminister Pawel Nikolajewitsch Miljukow, ein Kadett, alsbald den Westalliierten, zu allen von der Zarenregierung eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen zu stehen und den Krieg, Seite an Seite mit den Verbündeten, bis zum siegreichen Ende fortzusetzen.Auch die Vertreter der sozialistischen Parteien ließen an ihrer Bereitschaft, die neue Freiheit zu verteidigen, kaum einen Zweifel. Aber die Fixierung der Kadetten auf den Krieg und dessen siegreiche Beendigung ging ihnen dann doch zu weit, da die Festlegung auf einen Siegfrieden die Chancen mindere, zu einer gütlichen Einigung mit dem Gegner zu kommen, und zudem die Einleitung aller anderen Reformvorhaben blockiere. — Im Streit um diese Fragen geriet die neue Regierung schon im April in ihre erste große Krise. Demonstrationen erzwangen eine Kurskorrektur; Miljukow trat am 2. Mai zurück. Zwar wurde der Krieg fortgesetzt, doch mit ausdrücklicher Distanzierung von allen expansionistischen Zielsetzungen der Vergangenheit, mit der Forderung nach einem allseitigen »Frieden ohne Annexionen und Kontributionen«. Zugleich sollte die Regierung durch den Beitritt von Vertretern der sozialistischen Parteien auf eine breitere Basis gestellt werden.Beides schienen Maßnahmen des gesunden Menschenverstandes zu sein — und doch sollten sie sich als verhängnisvoll erweisen. Mit der Festlegung auf die Fortsetzung des Krieges erbte die neue Regierung die Probleme ihrer zaristischen Vorgängerin. Die Versorgungsengpässe, über die diese gestolpert war, hatten ihre Ursachen im Verfall des Transportsystems, im kriegsbedingten Niedergang landwirtschaftlicher Produktionsmethoden, in der Erschöpfung der Ressourcen. Ihnen war mit kurzfristigen Maßnahmen nicht beizukommen, schon gar nicht, wenn der Krieg fortgesetzt wurde. Auch mochte die »revolutionäre« Entmachtung alter Funktionsträger, der versprochene Neuaufbau von Selbstverwaltungsorganen auf lange Sicht mehr Effektivität versprechen; fürs Erste jedoch erschwerten sie Bemühungen, die Produktion anzukurbeln und die Versorgung zu verbessern.So hielt die wirtschaftliche Talfahrt an und die Inflation schritt immer rascher fort. Im Sommer 1917 scheiterte der Versuch kläglich, mit einer groß angelegten Offensive die militärische Entscheidung zu erzwingen. Das Kriegsende rückte damit erneut in unabsehbare Ferne. Mit den Problemen wuchs die Ungeduld ebenso wie die Unzufriedenheit mit den bisherigen Ergebnissen der Revolution; die Angst der Arbeiter, den Arbeitsplatz zu verlieren, nahm zu; die Bauern pochten auf die Durchführung der anstehenden Agrarreform. Immer weniger verfing der Hinweis auf den Krieg und die Staatsräson, immer weniger die Vertröstung auf die »alles entscheidende« konstituierende Versammlung.Als verhängnisvoll erwies sich nun auch die zweite im April getroffene Entscheidung: die Regierungsbeteiligung der gemäßigten Sozialisten, die seit dem Sommer 1917 mit Aleksandr Fjodorowitsch Kerenskij sogar den Ministerpräsidenten stellten. Sie fielen damit nicht nur als Moderator zwischen der Regierung und den Massenbewegungen aus, sondern wurden auch für die Fehlentwicklungen und für die unerfüllten Wünsche mit verantwortlich gemacht. Das gab den »Bolschewiki« genannten Radikalen, den Anhängern Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin, Gelegenheit, sich als die einzige Alternative zu präsentieren.Die BolschewikiWer waren nun diese Anhänger Lenins, die im Herbst 1917 in Russland die Macht ergriffen? Parteigeschichtlich gesehen gingen sie aus dem linken Flügel der 1898 gegründeten »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands« hervor. Zum sozialdemokratischen Erbe gehörte der Glaube an einen gesetzmäßigen Gang der Weltgeschichte, der von der Urgemeinschaft über die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus und Kapitalismus zum Sozialismus führe; auch für Russland werde es dabei keinen Sonderweg geben.Schon auf dem zweiten Parteitag 1903 war es jedoch anlässlich der Diskussion des Organisationsstatuts zu heftigen Meinungsverschiedenheiten gekommen. Lenin behauptete, in Russland könne die Sozialdemokratie nicht als lose Massenbewegung, sondern nur als straff organisierte Kaderpartei von Berufsrevolutionären überleben. Zur Begründung verwies er zum einen auf die Verfolgung durch die russische Geheimpolizei, die strenge Disziplin erfordere. Zum anderen führte er ins Feld, dass der auf sich allein gestellte Arbeiter lediglich ein gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln werde; das notwendige politische, »revolutionäre« Bewusstsein könne ihm hingegen nur von außen beigebracht werden. Der Streit zerriss die Partei in zwei Flügel: Da die Anhänger Lenins bei einer Abstimmung die Mehrheit hinter sich gebracht hatten, nannten sie sich künftig stolz »Bolschewiki« (Mehrheitler), und zwar im bewussten Gegensatz zu den damals Unterlegenen, den »Menschewiki« (Minderheitlern). Obwohl diese Kontroversen noch keine endgültige Parteispaltung bedeuteten und einzelne Provinzorganisationen mitunter bis in den Sommer 1917 an der Einheit festhielten, wuchs zwischen den Führungsgruppen die Distanz.Von der reinen Lehre zur politischen Praxis — Die Ideologie der BolschewikiDass die ideologische Entfremdung zwischen den beiden Gruppen der russischen Sozialdemokratie auch nach 1914 nicht schwand, dazu trug Lenins kompromisslose Haltung bei, mit der er im Schweizer Exil den Krieg nicht nur als »imperialistisch« verurteilte, sondern darüber hinaus den Ausschluss all derer, die nationale Verteidigungsanstrengungen unterstützten, aus der internationalen sozialistischen Bewegung verlangte und als neues gemeinsames Ziel die Umwandlung des Krieges in einen europäischen Bürgerkrieg formuliert haben wollte. Lenin war es denn auch, dessen Rückkehr aus dem Exil im Frühjahr 1917 alle Bemühungen um die Wiederherstellung der Parteieinheit endgültig zum Verstummen brachte. Die alten Meinungsverschiedenheiten wurden dabei rasch durch neue ersetzt. Dazu gehörte vor allem Lenins Forderung, der eben abgelaufenen politischen, »bürgerlichen« Revolution, die den Untertanen des Zaren die Grundrechte und politische Freiheit gebracht hatte, sogleich eine soziale, »sozialistische« folgen zu lassen. Aus Sicht der Menschewiki warf er damit Grundüberzeugungen des Marxismus über Bord: Schließlich war Russland noch immer ein Agrarland, die Industriearbeiterschaft gemessen an der Gesamtbevölkerung eine kleine Minderheit, das Land — Marx und Engels beim Wort genommen — noch nicht »reif« für eine proletarische Revolution. Um dieses Manko auszugleichen, musste Lenin die Bauern gewinnen, weswegen er gleichsam Anleihen beim Programm der Sozialrevolutionäre machte und die Aufteilung der adligen Güter versprach, wohl wissend, dass die Sozialdemokraten für die bäuerlichen Kleinproduzenten eigentlich keine Zukunft sahen. Widersprüchlich erschien auch Lenins Verhältnis zum Krieg: Hatte er eben noch von dessen Umwandlung in einen Bürgerkrieg gesprochen, so versprach er den Soldaten nun ganz einfach den Frieden.Überhaupt schienen alte Überzeugungen kaum noch zu zählen: Von der Forderung nach einer »straff organisierten Kaderpartei der Berufsrevolutionäre« im Sinne der leninistischen Ideen, einst wichtig genug, die Parteispaltung zu riskieren, war nun nicht mehr die Rede; hatte Lenin in diesem Zusammenhang behauptet, der Arbeiter sei — auf sich allein gestellt — nur zu einem gewerkschaftlichen Bewusstsein fähig, so propagierte er nun gerade die spontansten Formen der Arbeiterbewegung, die Sowjets, die als Notbehelf in der Revolution entstanden und erst wenige Wochen alt waren, als Gremien, die künftig Herrschaft ausüben sollten. Ihnen »alle Macht« zu übertragen, avancierte zur neuen bolschewistischen Kernforderung, die so zuvor in keinem Parteiprogramm stand.Nein, mit dem Schlagwort der »Avantgarde des Proletariats« waren die Bolschewiki 1917 kaum adäquat zu beschreiben; auch eine straff organisierte Kaderorganisation von Berufsrevolutionären waren sie nicht, schon eher ein populistisches Sammelbecken der Unzufriedenen, nicht zusammengehalten durch eiserne Disziplin und marxistisches Bewusstsein, sondern angelockt von einem Sofortprogramm, das den Soldaten Frieden, den Bauern Land und den Arbeitern Mitbestimmung in den Fabriken versprach. Ihre Führung war zuversichtlich, dass sich »im Weltmaßstab« die Dinge schon irgendwie fügen würden, alles seinen »gesetzmäßigen Gang« gehen würde. Schließlich sei der Kapitalismus zum weltweit herrschenden Gesellschaftssystem geworden, teile überall die Gesellschaften in Ausbeuter und ausgebeutete Klassen und die Völker in ausbeutende und ausgebeutete Nationen. Das Zarenreich — mit rückständiger Agrarverfassung, kleiner, aber hoch konzentrierter Industriearbeiterschaft und multiethnischer Zusammensetzung — berge all diese Widersprüche in sich und sei insofern das schwächste Glied in der Kette kapitalistischer Staaten. So werde eine »sozialistische Revolution« hier nicht lange allein ausharren müssen, der Funke rasch auf die fortgeschritteneren Gesellschaften Westeuropas überspringen und die »proletarische Weltrevolution« auslösen. Sucht man nach dem festen Kern des Leninismus, so wäre er wohl in der »flexiblen Anpassung« der marxistischen Revolutionstheorie auf die rückständigen russischen Verhältnisse zu sehen.Von den Aprilthesen Lenins zur OktoberrevolutionAnfang April mit deutscher Hilfe aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt, sagte Lenin der Provisorischen Regierung sogleich den Kampf an. In seinen »Aprilthesen« warf er ihr vor, die Außenpolitik ihrer Vorgängerin fortzusetzen und auch in der Innenpolitik zu durchgreifenden Reformen weder willens noch fähig zu sein. Die spannungsreiche Doppelherrschaft von Sowjets und Provisorischer Regierung sollte beendet werden, die Sowjets sollten die alleinige Macht übernehmen. Nach Lenin enthielten sie Kernelemente eines neuen, proletarischen Staates, ohne Berufsbeamtentum und stehendes Heer, fortschrittlicher und demokratischer als der westliche Parlamentarismus. Darüber hinaus forderte er den sofortigen Friedensschluss, die Durchführung einer Agrarreform, die das Land der Gutsbesitzer enteignete, und die Vereinigung aller Banken zu einer Staatsbank.Noch im Frühjahr schien dieses Programm ohne jede Chance auf Verwirklichung zu sein. Vor allem waren die Sowjets, denen die Staatsmacht übertragen werden sollte, nicht willens, sie tatsächlich zu übernehmen. Ein erster Versuch, seine Durchsetzung mit Gewalt zu erzwingen, scheiterte im Juli 1917, woraufhin die Partei sogar verboten wurde. Doch in den Herbst hinein, nach einem Putschversuch von rechts, als der Krieg noch immer andauerte, die Regierung, obgleich mehrfach umgebildet, mit ihrer Weisheit am Ende zu sein schien und die Angst vor dem nächsten Winter wuchs, erhielt die Partei Lenins erheblichen Zulauf. Ab September wusste sie im Petrograder Sowjet die Mehrheit hinter sich. Gestützt auf den Apparat des Sowjets plante sie nun den Griff nach der Macht. Mit der Besetzung der wichtigsten Punkte der Stadt und der Verhaftung der Provisorischen Regierung wurde er am 25./26. Oktober 1917 vollzogen. So war auf die Februarrevolution, die den Zaren zur Abdankung zwang, nur acht Monate später der Oktoberaufstand gefolgt, woraufhin der Allrussische Rätekongress 1918 die »Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik« (RSFSR) ausrief. Der Aufstand trug alle Merkmale eines Staatsstreiches. Diejenigen, die auch den neuen Machthabern, den Bolschewiki, ein baldiges Scheitern voraussagten, täuschten sich freilich. Denn diese sicherten ihre Macht mit der Einlösung jener Versprechungen, die sie den Arbeitern, Bauern und Soldaten gegeben hatten: Sie beendeten den Krieg, gaben den Bauern freie Hand für den Zugriff auf das Land der Gutsbesitzer, der Kirche und der Klöster, führten in den Fabriken die Arbeiterkontrolle, die Möglichkeit zur umfassenden Mitsprache, ein und entmachteten den alten Staatsapparat mit der Übertragung aller Befugnisse an die Sowjets.Der Rat der Volkskommissare — Die Revolutionierung von Staat und GesellschaftDer alten Regierung folgte rasch eine neue, eine »Arbeiter- und Bauernregierung«, der »Rat der Volkskommissare«: Dieser sollte sich auf die Sowjets draußen im Lande stützen und vom Allrussischen Rätekongress kontrolliert werden. Am Tage nach dem Umsturz trat der 2. Allrussische Rätekongress zusammen. Er bestätigte die — rein bolschewistische — Zusammensetzung der Regierung, nachdem ihn zuvor alle politischen Gegner der Bolschewiki unter Protest verlassen hatten. Selbst wenn dem Rat der Volkskommissare im November 1917 auch einige linke Sozialrevolutionäre beitraten, ihre Rolle als Koalitionspartner der Bolschewiki blieb Episode: Im März 1918 zogen sie sich aus der Regierung wieder zurück.Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war, dass sie dem Rätekongress ein »Friedensdekret« zur Annahme vorlegte. Es richtete sich an alle Krieg führenden Völker und Regierungen und schlug ihnen vor, sofort mit Verhandlungen über einen gerechten, demokratischen Frieden zu beginnen. Ein solcher Frieden konnte aus ihrer Sicht nur ein Frieden »ohne Annexionen und Kontributionen«, ohne Aneignung fremder Territorien und ohne die Forderung von Entschädigungszahlungen sein. Doch auch diese Feststellung sollte nicht als »Vorbedingung« für die Aufnahme von Gesprächen verstanden werden. Tatsächlich kam es schon nach wenigen Tagen zu ersten Waffenstillstandsverhandlungen mit den Mittelmächten und bereits einen Monat später wurden die Kämpfe eingestellt.Für das politische Überleben kaum weniger wichtig war ein zweiter Gesetzentwurf, der am Tag nach dem Umsturz von der Regierung und dem Rätekongress verabschiedet wurde: das Dekret über Grund und Boden, das die entschädigungslose Enteignung der Krone und der Gutsbesitzer, der Kirche und der Klöster verfügte. Der Entwurf griff zentrale Forderungen der Bauern, wie sie im Spätsommer 1917 von einer Bauernzeitung veröffentlicht worden waren, auf und verlieh ihnen Gesetzeskraft. Den Rest besorgten die Bauern weitgehend selbst: Sie brachten den für herrenlos erklärten Boden in den Besitz der dörflichen Landgemeinden, die kollektiv über ihn verfügten und nach der Zahl der Esser oder männlichen Arbeitskräfte auf die einzelnen Höfe im Dorf verteilten. 1919 war die landwirtschaftliche Nutzfläche zu 97 Prozent in bäuerlicher Hand.Bei der Ausrufung der Räterepublik hatte man den Arbeitern noch einmal die Kontrolle über die Produktion versprochen. Eine Verordnung des Rates der Volkskommissare löste zwei, drei Wochen später auch diese Zusage ein. Sie unterstellte alle wichtigen Entscheidungen in den Betrieben, die die Produktion, den An- und Verkauf von Produkten, ihre Lagerung, aber auch die Finanzen betrafen, der Kontrolle der Belegschaften und schaffte das Geschäftsgeheimnis ab. Kam es zwischen Besitzern und Belegschaft zu Konflikten, so zogen sie oft die Enteignung nach sich. Schon Anfang Dezember 1917 wurde auch ein Oberster Volkswirtschaftsrat geschaffen, der die Tätigkeit der lokalen und zentralen Wirtschaftsorgane koordinieren und einen Plan zur Regulierung des Wirtschaftslebens vorlegen sollte. Er erhielt gleichzeitig das Recht, Handels- und Industrieunternehmen zu enteignen, zusammenzulegen oder auch andere Maßnahmen zu treffen, die ihm im Interesse der Produktion, der Distribution oder der Staatsfinanzen notwendig schienen.Eine wahre Flut von Dekreten und Verordnungen erläuterte, ergänzte und erweiterte die geschilderten Projekte. In ihnen wurden — um nur einige zu nennen — alle bestehenden Gerichte einschließlich der Staatsanwaltschaft und Advokatur aufgehoben; ebenso alle Gesetze, die dem »revolutionären Rechtsbewusstsein« widersprachen, sowie alle Dienstränge in der Armee. Künftig sollten sich die Soldaten ihre Vorgesetzten selbst wählen. Andere Dekrete und Verordnungen nahmen der Kirche die Aufsicht über die Schulen, erklärten Religion zur Privatsache und strichen sie als Fach aus dem Kanon aller Bildungsanstalten. Sie führten die Zivilehe ein und erleichterten die Scheidung — beide Ehepartner mussten dazu nur eine entsprechende Erklärung abgeben. Ein weiteres Dekret verfügte den Zusammenschluss der privaten Kreditunternehmen mit der Staatsbank und erklärten das Bankwesen zum Staatsmonopol. Nichts im öffentlichen Leben, in Wirtschaft und Gesellschaft sollte so bleiben, wie es vordem gewesen war.Prof. Dr. Helmut AltrichterWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Sowjetunion: Der russische Bürgerkrieg und die Gründung der SowjetunionGrundlegende Informationen finden Sie unter:Russland: Die Expansion nach dem KrimkriegKritzman, Leo N.: Die heroische Periode der großen russischen Revolution. Aus dem Russischen. Wien u. a. 1929. Nachdruck Frankfurt am Main 1971.Moynahan, Brian: Das Jahrhundert Rußlands. 1894-1994. Aus dem Englischen. München 1994.Rußland unter Hammer und Sichel. Die Sowjetunion 1917-1967, bearbeitet von Gert Richter. Gütersloh 1967.
Universal-Lexikon. 2012.